"Ein Stück alte Heimat..." - Bibeln für Flüchtlinge

"Es ist, als hätten sie ein Stück alte Heimat wiedergewonnen, nur diesmal ohne Bedrohung und in Frieden."

Geflüchteten Menschen Bibelausgaben in ihrer Muttersprache zur Verfügung zu stellen, ist ein Dauerprojekt der Österreichischen Bibelgesellschaft. Eine persönliche Bibelausgabe ist oft ein wahrer Schatz. Oft kommen Anfragen über Pfarrgemeinden, die für die Menschen in diesen schwierigen Lebenssituationen eine wichtige Anlaufstelle bilden. Dr. Marianne Pratl-Zebinger, Pfarrerin in Leibnitz, hat uns von ihren Erfahrungen und von der Wichtigkeit einer Bibel in der eigenen Sprache erzählt: 

Als Jutta Henner von der Bibelgesellschaft 2013 bei uns in Leibnitz zu Besuch war, erzählte sie von ihrer Arbeit und auch davon, Bibeln in vielen Sprachen zum Beispiel an Menschen in Gefängnissen oder eben auf der Flucht zu verschenken. Man würde es nicht für möglich halten, wie groß die Nachfrage nach Bibeln bei Menschen sei, die buchstäblich nichts mehr besitzen, nicht einmal den Pullover, den sie tragen, denn selbst der sei gespendet.

Merkwürdig abstrakt war das alles, damals 2013. Dann kam der November 2014. Schon bei unserer ersten Einladung an geflüchtete Menschen wussten wir nicht mehr, wo wir genug Kaffeehäferln hernehmen sollten, so viele sind gekommen. 2015 sind es noch viel mehr geworden. Die Grenze bei Spielfeld war österreichweit in aller Munde. Bei uns wurden Deutschkurse organisiert, Kleiderspenden gesammelt, Kindergruppen gegründet – und tatsächlich: Plötzlich gab es auch im kleinen Leibnitz einen riesigen Bedarf an fremdsprachigen Bibeln. Bibeln in Farsi und Arabisch haben wir in großer Zahl weitergegeben, aber auch Bibeln in Paschtu, Usbekisch, Kurdisch und Russisch sind über meinen Schreibtisch gegangen, dazu eine Vielzahl an Material zum Thema „Flucht in der Bibel“. Man soll gar nicht glauben, wie sehr Menschen sich über so etwas freuen können! Nicht, dass sie alle hätten Christen werden wollen. Aber wahrscheinlich ist es einfach ein Stück Menschlichkeit, nicht als Masse wahrgenommen zu werden, sondern als Mensch mit einer unverwechselbaren Muttersprache – selbst wenn wir von dieser Sprache noch nie was gehört haben. Viele von ihnen haben einfach bei uns zum ersten Mal eine Kirche betreten. Wie sollten sie da nicht neugierig geworden sein?

Ein besonderer Moment: Bei der Taufe des kleinen Alen erklingen die Verse auf Amharisch, der Muttersprache der Familie, die aus Äthiopien stammt.

Ein besonderer Moment: Bei der Taufe des kleinen Alen erklingen die Verse auf Amharisch, der Muttersprache der Familie, die aus Äthiopien stammt.

Einige aber waren tiefgläubige Christen verschiedener Herkunft: orthodoxe Christen oder Kopten, Menschen aus Untergrundkirchen in islamistischen Terrorregimen, die die Bibel daheim in aberwitzigen Verstecken gelesen und Christus für sich entdeckt hatten. Nie hätten sie es wagen dürfen, das verräterische Buch mit auf die nächtlichen Fluchtrouten zu nehmen, weil sie damit am Ende ihre ganze Gemeinde verraten hätten. Ihnen aber hier wieder eine Bibel in ihrer Muttersprache schenken zu können – das war so, als hätten sie ein Stück alte Heimat wiedergewonnen, nur diesmal ohne Bedrohung und in Frieden. Berührende Momente. Und wenn ich immer wieder zweifelnd gefragt werde: „Bist du nicht zu gutgläubig? Sind das wirklich Christen?“ – dann kann ich die zweifelnd Fragenden nur einladen, einmal gemeinsam mit unseren fremdsprachigen Geschwistern die Bibel zu lesen und ihren Umgang mit dieser Schrift zu erleben. Sie hüten sie wie ihren größten Schatz, kennen sie wie ihre Westentasche und finden problemlos jede Stelle. Wie viele von den kritisch Fragenden würden eine Bibel wohl auf Anhieb aufschlagen können, wenn ich sagen würde: Jetzt lesen wir einmal aus den Sprüchen Salomons, Kapitel 21, Vers 2? Wie berührend ist es aber umgekehrt, wenn wir dieselben Worte lesen können – zeitgleich, am selben Tisch, obwohl wir (noch) keine gemeinsame Sprache haben? 

Wie viele Bibeln in wie vielen Sprachen ich in den letzten Jahren von der Bibelgesellschaft erhalten und weitergeschenkt habe, kann ich gar nicht sagen. Dafür bin ich sehr dankbar.

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In unserer Kirche gibt es jetzt übrigens Bibeln in acht Sprachen: Deutsch, Griechisch, Hebräisch, Englisch, Französisch, Arabisch, Farsi und seit unserer letzten Taufe im Oktober 2021 auch Amharisch. Der kleine Alen, dessen Familie aus Äthiopien geflohen ist, hat Taufpaten aus unserer Gemeinde, alle waren in traditionelle äthiopische Gewänder gekleidet, dazu die fremde Sprache und die beeindruckenden amharischen Buchstaben: Es war wirklich ein Hauch von Gottes großer Schöpfung in unserem kleinen Kirchenraum. 

Marianne Pratl-Zebinger