Die Bibel – Welche Bibel?

Kommt man in ein Buchgeschäft und verlangt nach einer Bibel, so wird man wahrscheinlich erstaunt mit der Frage konfrontiert werden: „Welche Bibel?“ Ist es nicht so, dass die Bibel ein Buch ist, das man in eine bestimmte Sprache übersetzt und damit fertig? Ganz im Gegenteil! In der Bibliothek der Österreichischen Bibelgesellschaft, die Bibeln in mehr als 360 Sprachen enthält, konnten über 70 verschiedene deutschsprachige Übersetzungen ausfindig gemacht werden.

dsc08938

Wie kommt es nun dazu, dass es so viele „Bibeln“ in einer Sprache gibt? Warum wird die Bibel immer wieder neu übersetzt und für wen?

Friedrich Schleiermacher unterschied ganz prinzipiell zwei Typen von Übersetzungen: Solche, die den Text zum Leser hin bewegen, und solche, die es nötig machen, dass der Leser sich zum Text hinbewegt. In anderen Worten: Man sollte sich, bevor man zu einer Bibel greift, darüber im Klaren sein, ob man den Bibeltext in einer leicht verständlichen, mitunter auch vereinfachten Form lesen möchte („Text bewegt sich zum Leser“), oder ob man Wert auf eine Übersetzung legt, die dem hebräischen und griechischen Original möglichst nahe kommt („Leser bewegt sich zum Text“). Innerhalb dieser Positionen gibt es ein weites Spektrum, das für jedermann - vom wissenschaftlich Interessierten über den traditionellen Bibelleser bis hin zu dem, der einmal vorsichtig hineinschnuppern möchte - die passende Übersetzung bereithält. Davon zu unterscheiden sind die konfessionellen Übersetzungen, die in ihrer Form von der jeweiligen Glaubensgrundhaltung geprägt sind.

Ein kurzer Überblick über die Geschichte der deutschsprachigen Übersetzungen: Die erste, in Teilen erhaltene Übersetzung in eine germanische Sprache stellt die gotische Bibel des Bischofs Wulfila dar (4. Jahrhundert). Um das Jahr 1000 wurde von Notker Labeo eine Übertragung der Psalmen ins Althochdeutsche verfasst. Aus dem Jahr 1466 stammt die erste vollständige deutsche Bibel in gedruckter Form von Johann Mentelin, die allerdings nicht den Originaltext, sondern die lateinische Vulgata als Vorlage benutzte. Aus dem 16. Jahrhundert, als sich im Zuge des Humanismus eine Rückbesinnung auf die hebräischen und griechischen Originaltexte durchsetzte, stammen die Übersetzungen von Erasmus von Rotterdam und Johannes Reuchlin.

1522 legte der Reformator Martin Luther die Übertragung des Neuen Testaments vor, 1534 folgte das Alte Testament. Neu an dieser Übersetzung war, dass Luther erstmals auch den Leser in den Übersetzungsprozess einbezog: Neben sprachlicher Genauigkeit sollte sein Text allgemein verständlich („den Menschen beim Reden aufs Maul schauen“ war sein Motto) und einprägsam sein (Verwendung von Stabreim u. ä.). Da durch den fast zeitgleich aufgekommenden Buchdruck – Johannes Gutenberg ließ 1452 in Mainz erstmals eine lateinische Bibel drucken – Bibelausgaben in größeren Mengen und zu niedrigeren Preisen hergestellt werden konnten, war diese Übersetzung als Text der evangelischen Kirche im deutschen Sprachraum weit verbreitet. Der Einfluss auf die Entstehung der deutschen Hochsprache, die sich auf dieses umfangreichste Werk der damaligen deutschsprachigen Literatur gründete, ist kaum zu überschätzen.

Die katholische Entsprechung zur Lutherbibel ist die Übersetzung von Johann Dietenberger ebenfalls aus dem Jahr 1534, die nach ihrer Überarbeitung im Jahr 1680 als Mainzer Bibel bekannt wurde. Die katholische Tradition legte ihren Übersetzungen jedoch bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil am Beginn der Sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts stets die lateinische Vulgata zugrunde. Erst mit der im Rahmen des Konzils beschlossenen Umstellung der Liturgie in die jeweiligen Muttersprachen anstelle der lateinischen Sprache wurde für diesen Zweck eine neue Bibelübersetzung auf Basis der hebräischen und griechischen Originaltexte angefertigt (Einheitsübersetzung).

Zu erwähnen ist außerdem die Übersetzung des Schweizer Reformators Huldrych Zwingli (Neues Testament 1524, Altes Testament 1531), die auf Basis der Urtexte immer wieder überarbeitet wurde.